Brief des Schriftstellers Oskar Maria Graf (1927)

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Fundstück des Monats Januar 2016: Brief des Schriftstellers Oskar Maria Graf (1927)

Am 14. Mai 1927 schrieb der deutsche Schriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967) einen Dankesbrief mit der Anrede „Sehr geschätzte, gnädige Frau“, in dem er wesentliche Grundsätze seiner politischen Einstellung umreißt. Der Brief hat sich in den Beständen des Stadtarchivs Dessau-Roßlau erhalten. „Ich bin keiner gewesen“, stellt der Dichter in diesem Brief klar, „der im Krieg Kriegsgedichte und bei der Revolution Revolutionslieder gesungen hat, sondern einer, der gegen den Krieg von Anfang an war und auch jene schöne deutsche sozialdemokratische Partei, die der Revolution den Kragen abgedreht hat, nie als seine Partei ansah“.

Das Schreiben Oskar Maria Grafs nach Dessau war die Antwort auf einen Brief, den er von einer Leserin seiner kurz zuvor im Drei Masken Verlag München erschienenen Lebensgeschichte „Wir sind Gefangene“ erhalten hatte. Mit diesem 1927 erschienenen autobiographischen Roman gelang Graf der Durchbruch als Autor, der ihm eine Existenz als freischaffender Schriftsteller ermöglichte. Es war „ein Dokument der höchst bewegten Zeit von 1905 bis 1918“, geschrieben von einem Dichter, der nicht außerhalb der Gesellschaft mahnte, sondern „mitten in ihr verblieb“ und rücksichtslos sich selbst kritisierte. Die Leserin aus Dessau hatte ihn unter anderem um seine Meinung über Merkmal und Wesen eines Arbeiterdichters gebeten. Als Arbeiterdichter betrachtete sich Oskar Maria Graf nicht. Ein Arbeiterdichter war für ihn unter anderem „ein Mann, der mit den Arbeitern eins ist und ihren Kampf in jeder Form mitkämpft. Ein Mensch, der blutsmässiger Prolet ist und – ganz gleich, was er dichtet – dieses Blutsmässige mit größter Wahrhaftigkeit zu Nutz und Frommen der Klassengenossen aus sich herausstellt.“

Oskar Maria Graf war ein kompromissloser Pazifist. Zu einer Partei wollte er nie gehören. „Grundmenschliche Empörung gegen jeden Missbrauch der Schwächeren durch die Stärkeren“ war sein Programm. Von den Nazis wollte er sich nicht vereinnahmen lassen. Bei der Bücherverbrennung der Nazis am 10. Mai 1933 befand sich Oskar Maria Graf auf einer Lesereise in Wien. Seine Bücher fielen zunächst nicht der Bücherverbrennung zum Opfer, doch er veröffentlichte am 12. Mai 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung den Aufruf: „Verbrennt mich!“. 1934 wurden seine Bücher in einer eigens für ihn angesetzten Bücherverbrennung im Innenhof der Münchner Universität nachträglich verbrannt, seine Werke in Deutschland verboten und er selbst ausgebürgert. Oskar Maria Graf lebte nun im Exil, unter anderem in Wien, Brünn, Prag, Moskau und ab 1938 in New York. Im Dezember 1957 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Im folgenden Jahr unternahm er erstmals nach dem Krieg wieder eine Europareise. Oskar Maria Graf starb1967 in New York. Sein Nachlass befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

Die „Gnädige Frau“ mit der Oskar Maria Graf in Dessau in Korrespondenz stand, war mit hoher Wahrscheinlichkeit Friederike von Unruh geb. Schaffer (1889-1971), Ehefrau des Schriftstellers Fritz von Unruh (1885-1970), dessen Spuren wiederum nach Dessau zu seinem Großvater Hans Viktor von Unruh, dem Mitbegründer der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft, führen. Diesen bedeutenden Graf-Brief aus seinen Beständen zeigt das Stadtarchiv Dessau-Roßlau im Februar 2016 als „Fundstück des Monats“. Oskar Maria Grafs Roman „Wir sind Gefangene“ kann von interessierten Lesern in der Anhaltischen Landesbücherei ausgeliehen werden.