über die Ausstellung

Vorbemerkungen


Ab den 1830er Jahren entwickelte sich in einigen deutschen Staaten die fabrikmäßige Zuckergewinnung aus Rüben zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor und zum Auslöser von grundlegenden Industrialisierungsprozessen. Zu den Kerngebieten dieser Entwicklung gehörte die Region Anhalt.

Die anhaltischen Lössböden zwischen Mulde und Saale boten hervorragende Anbaubedingungen für die Zuckerrüben, die in zahlreichen Zuckerfabriken auch in der Region verarbeitet wurden. In Anhalt entstanden zwischen 1811 und 1879 immerhin 44 Zuckerfabriken, die meisten davon in den Kreisen Bernburg und Köthen. Die ersten Fabriken wurden von Kaufleuten und Gutsbesitzern als Nebenerwerb ihrer landwirtschaftlichen Betriebe gegründet. Einige dieser Fabriken konnten sich lange Zeit am Markt behaupten, nicht wenige aber bestanden nur wenige Jahre. Zu diesen gehörte die 1837 in Roßlau entstandene „Anhaltische Privilegierte Zucker-Raffinerie an der Elbe“, die schon 1844 ihren Betrieb einstellen musste. Die Entwicklung der Roßlauer Zuckerfabrik zeigt beispielhaft die vielen Schwierigkeiten, mit denen die Pioniere der frühen Zuckerfabriken zu kämpfen hatten Im Allgemeinen war die Zuckerindustrie jedoch ein sehr erfolgreicher und schnell wachsender Wirtschaftszweig. Mit der Zuckerindustrie waren moderne technische Entwicklungen und zahlreiche Innovationen in Agrarwirtschaft, Maschinenbau, chemischer Industrie sowie Nahrungs- und Genussmittelproduktion verbunden. Sie hatte einen großen Anteil daran, und dieser Befund mag aus heutiger Sicht erstaunen, dass unsere Region am Ende des 19. Jahrhunderts zu den Gebieten im Deutschen Kaiserreich gehörte, in denen die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war. Die Zuckerindustrie entfaltete darüber hinaus aber auch eine große gesellschaftliche Wirksamkeit. Diese komplexen Zusammenhänge werden in der Ausstellung Zucker aus Rüben – Ein „Kraftstoff“ der Moderne anhand von zahlreichen Objekten, Modellen, Grafiken, Fotos und Filmaufnahmen für Anhalt erstmals in den Blick genommen.

Anlass für die Ausstellung ist die Gründung der Dessauer Zucker-Raffinerie AG vor 150 Jahren, am 14. Juni 1871. Das Unternehmen war gegründet worden, um hier das vom Chemiker Max Fleischer und seinem Sohn Dr. Emil Fleischer entwickelte kostengünstige Verfahren der Zuckergewinnung durch Melasseentzuckerung mit Hilfe von Strontium-Verbindungen in die industrielle Praxis zu überführen. Die Melasseentzuckerung in technischen Verfahren war bis dahin noch nicht gelungen. In der Dessauer Zucker-Raffinerie konnte nach dem neuartigen Fleischerschen Strontianverfahren erstmals und mit bestem Erfolg in industriellem Maßstab Zucker aus Melasse gewonnen werden.
Für die Standortentscheidung Dessau spielten eine Reihe von günstigen Voraussetzungen eine Rolle: schneller und günstiger Zugriff auf die nahen Braunkohlevorkommen in Anhalt und im Bitterfelder Revier sowie auf den Ausgangsstoff Melasse, gute Verkehrsanbindungen über die Eisenbahn und über die Elbe als Wasserstraße, ausreichende Ressourcen an Melasse in der Nähe sowie ein insgesamt sehr positives Industrieansiedlungsklima im Herzogtum Anhalt und in dessen Haupt- und Residenzstadt. Dafür spricht auch die Verlegung einer Zuckerraffinerie aus Köln in das Dorf Alten westlich von Dessau durch den Rheinischen Aktien-Verein für Zuckerindustrie im Jahr 1889, die dort bis 1932 bestand.

Die Dessauer Zucker-Raffinerie entwickelte sich zur bedeutendsten Industrieansiedlung des Nahrungsmittelgewerbes in der anhaltischen Haupt- und Residenzstadt Dessau und zu einem der Vorreiter der Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden chemischen Großindustrie in Deutschland. Das Unternehmen profitierte in seiner Entwicklung von einer intensiven und erfolgreichen innerbetrieblichen Forschungsarbeit zur möglichst umfassenden Verwertung aller in der Melasse enthaltenen Stoffe sowie von modernen technischen und verfahrenstechnischen Entwicklungen. Auch in sozialpolitischer Hinsicht stand es auf der Höhe der Zeit. So widmet sich der Hauptteil der Ausstellung auch der 150-jährigen Entwicklung der Dessauer Zucker-Raffinerie. Die Gründungszusammenhänge werden ebenso erläutert wie die auf eigenen Forschungen und Verfahrensentwicklungen beruhenden Produktionserweiterungen der Dessauer Zucker-Raffinerie bis 1945, die Entwicklung der Strontian- und Pottaschefabrik Roßlau, die Weiterführung des Unternehmens als VEB Gärungschemie Dessau nach dem Zweiten Weltkrieg, der Niedergang des Betriebes im Rahmen der Deindustrialisierung in Dessau-Roßlau nach 1990 bis hin zur Tätigkeit der heutigen Gärungschemie Dessau GmbH.

In weiteren Ausstellungsbereichen werden einige der 44 anhaltischen Zuckerfabriken vorgestellt, die Entwicklung des Zuckerrübenanbaus vom 19. Jahrhundert bis heute sowie dessen Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung beleuchtet sowie die Weiterverarbeitung der in den Raffinerien produzierten großen Mengen kostengünstigen Rübenzuckers in den kleinen und mittelständischen Betrieben der Nahrungs- und Genussmittelindustrie wie in den Konditoreien der Stadt dargestellt.

Gezeigt wird auch der große und vielfältige Einfluss, den die Zuckerindustrie mittels ihrer ökonomischen Macht, als bedeutender Steuerzahler und durch die kostengünstige Erzeugung von Rübenzucker auf Politik, Gesellschaft, Kultur, Gesundheit und Alltagsleben der Menschen gewannen. So konnten die Direktoren der Dessauer Zucker-Raffinerie durch ihre wirtschaftliche Ausnahmestellung einerseits beträchtlichen Einfluss auf politische Entscheidungen in der Stadt nehmen und sich anderseits durch zahlreiche Stiftungen für die Stadtgesellschaft engagieren. Direktoren der Dessauer Zucker-Raffinerie wie Dr. Hermann Reichardt, Eduard Krüger und Emil Venator gehörten zu den wichtigsten Dessauer Persönlichkeiten und Mäzenen ihrer Zeit. Von den Zuckerraffinerien gingen mit der Ansiedlung der Fachschule für Zuckerindustrie in Dessau schon kurz nach 1900 auch Impulse für die Berufsausbildung von Frauen aus. Zuckerrübenanbau und Betrieb der Zuckerfabriken waren mit einer namhaften Arbeitsmigration verbunden.

Die Themenbereiche und Inhalte der Ausstellung werden durch sechs im hier vorgelegten Begleitband zur Ausstellung erscheinende wissenschaftliche Aufsätze ergänzt und vertieft. Diese Beiträge beleuchten die Entwicklung der Ware Zucker vom Luxusgut zum Massenprodukt im Zusammenhang mit Rückkopplungen und Wechselwirkungen der kolonialen Expansion europäischer Mächte, stellen die Chemiker Max und Emil Fleischer und ihre besondere Rolle bei der Gründung der Dessauer Zucker-Raffinerie vor und vermitteln einen erstmals unternommenen Überblick über den Zuckerrübenanbau sowie die Entstehung und Entwicklung der 44 Zuckerfabriken und Zuckerraffinerien in Anhalt. Die Aufsätze blicken auf 150 Jahre Unternehmensentwicklung von der Dessauer Zucker-Raffinerie AG zur Gärungschemie Dessau GmbH und geben eine sehr detaillierte Vorstellung davon, wie die Dessauer Zucker-Raffinerie als Hautproduktionsstandort des Schädlingsbekämpfungsmittels Zyklon B mit dessen Einsatz zur massenhaften Ermordung von Menschen, vor allem jüdischer Männer, Frauen und Kinder aus ganz Europa, zu einem Teil des Räderwerks der menschenverachtenden Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten wurde. Im Aufsatzteil werden schließlich unter dem Stichwort „Süße Stadt“ auch zahlreiche Aspekte des gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Einflusses der heimischen Zuckerfabrikation auf Dessau-Roßlau und seine Bewohner dargestellt. Den Autorinnen und Autoren dieser Beiträge Anja Bel (Köln), Karin Weigt (Dessau-Roßlau), Jana Müller (Dessau- Roßlau) und Dr. Bernhard Post (Weimar) danke ich ganz herzlich. Karin Weigt vom Museum für Stadtgeschichte Dessau hat neben ihrem Fachbeitrag auch den größten Teil der Objektbeschreibungen für die Ausstellung und den Katalog verfasst. Zum Katalogteil durfte auch ich etwas beitragen, und schließlich stammen einige Objektbeschreibungen auch von Dr. Timm Karisch (Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Dessau) und Jana Müller. Auch hierfür danke ich herzlich. Ich freue mich sehr, dass das Stadtarchiv Dessau-Roßlau und das Museum für Stadtgeschichte Dessau dieses erfolgreiche Kapitel der Wirtschaftsgeschichte Dessaus und Anhalts und die damit verbundenen Impulse und komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Ausstellung und im Begleitband Zucker aus Rüben – ein „Kraftstoff“ der Moderne gemeinsam und umfassend in den Blick nehmen. Damit konnte eine Ausstellungsidee Wirklichkeit werden, die ich schon seit einigen Jahren mit mir herumtrug und für die ich Frau Weigt bald ebenfalls begeistern konnte. Je länger wir gemeinsam über eine Zucker-Ausstellung nachdachten, desto umfangreicher und vielschichtiger wurden die Themenbereiche und Inhalte, die in eine solche Exposition hätten aufgenommen werden können. Bei der Umsetzung der Ideen mussten wir schließlich eine Reihe von Themen und viele Objekte verwerfen, die durchaus auch ihren berechtigten Platz in der Ausstellung gehabt hätten.

Dabei kamen überraschende Befunde und Zusammenhänge zum Vorschein, die man oft auf den ersten Blick nicht mit der Zuckerindustrie in Zusammenhang bringt. Ich nenne hier nur einige Stichworte: Gammaeule, Pommritzer Rodepflug, Migration, Berufsausbildung für Frauen, Zuckerhammer, Coelestin, Brigadebuch, Futterhefe und Barium. Auch auf unangenehme historische Wahrheiten wie den Missbrauch von Zyklon B geht die Ausstellung ein. Ursprünglich wollten wir unsere Ausstellung im Sonderausstellungsraum des Museums für Stadtgeschichte Dessau im Johannbau eröffnen. Das war nicht möglich, weil die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau ihr dortiges Interim wegen Problemen bei der Klimatisierung der neuen Ausstellungsräume im Schloss Georgium weiterhin nutzen muss. Umso mehr freue ich mich, dass wir den Sonderausstellungsraum der Anhaltischen Gemäldegalerie in der Orangerie beim Schloss Georgium nutzen dürfen. Hierfür und für vielfältige Hilfe danke ich dem Team der Gemäldegalerie um Herrn Ruben Rebmann sehr herzlich. Wie die meisten Ausstellungen lebt auch unsere von zahlreichen Leihgaben aus Nah und Fern. Alle privaten und institutionellen Leihgeber können an dieser Stelle nicht aufgeführt werden. Stellvertretend für alle möchte ich hier nur einige nennen: das Deutsche Landwirtschaftsmuseum Stuttgart-Hohenheim, die Stiftung Technikmuseum Berlin, das Unternehmen Pfeifer & Langen, Köln, die Gärungschemie Dessau GmbH und die Dessbo Sweet & Biscuit GmbH aus Dessau-Roßlau, das Landesarchiv Sachsen-Anhalt (insbesondere Frau Anke Boeck), das Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Noni Reissinger aus Leverkusen, Detlef Güth und Ernst Steinsberger aus Dessau-Roßlau. Allen hier genannten Leihgebern, und auch allen, die ich an dieser Stelle nicht nennen konnte, danke ich sehr! Ein großer Dank geht ebenfalls an die Firmen, die unsere Ideen für die Ausstellungsgestaltung und Ausstellungstechnik realisieren halfen.

Die Ausstellung wurde in großzügiger Weise von zahlreichen Partnern finanziell gefördert und damit erst möglich gemacht. Besonders großzügige finanzielle Unterstützung erhielten wir vom Land Sachsen-Anhalt im Rahmen der Kulturförderung sowie von der Lotto-Toto GmbH Sachsen-Anhalt. Ebenso herzlich danke ich den vielen Firmen und privaten Partnern aus Dessau-Roßlau und weit darüber hinaus, die noch bestehende Finanzierungslücken schließen halfen. Besonders hervorzuheben sind in dieser Hinsicht die DESSBO Sweet & Biskuit GmbH, die senexis GmbH, die Gärungschemie Dessau GmbH und die DHW Deutsche Hydrierwerke GmbH Rodleben, die Pfeifer & Langen Industrie und Handels-KG in Köln sowie die KWS Saat SE und Co KGaA Einbeck, die die Ausstellung neben ihrem finanziellen Engagement auch mit Leihgaben unterstützten. Gleichzeitig bin ich sehr froh darüber, dass auch unsere Stadt die notwendigen Mittel im Haushalt bereitstellte. An der Vorbereitung, am Aufbau und an Durchführung der Ausstellung, an der Erarbeitung des Begleitbandes sowie an den Angeboten des Begleitprogramms haben so viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Stadtarchiv, den Museen der Stadt und dem Kulturamt, so viele Helfer und Ideengeber mitgewirkt, dass ich sie an dieser Stelle leider nicht alle nennen kann. Bitte sehen Sie mir das nach. Ich danke ihnen allen sehr! Zwei Namen möchte ich aber doch nennen: Anita und Sven Hertel. Anita Hertel verdanken wir die naturalistische Zuckerrüben-Replik, mit der die Ausstellung startet. Sven Hertel war bei der Ausstellungsvorbereitung gleichzeitig Gestalter, Motor, Monteur, Navigator und Fahrer.

Sie alle haben es ermöglicht, dass wir mit der Ausstellung Zucker aus Rüben – ein „Kraftstoff“ der Moderne einen Einblick in das wirtschaftliche Potential geben können, das Dessau-Roßlau hatte und immer noch hat, wenn es selbstbewusst gehoben wird. Die Zuckerwirtschaft ermöglichte durch technische und soziale Innovationen neue Beschäftigung im ländlichen Raum und verwandelte Dessau, Roßlau und große Teile Anhalts in eine Region, die industriell hoch entwickelt war und von Fachkräften und Familien nicht verlassen, sondern aufgesucht wurde. Ich bin mir sicher, dass die Ausstellung und der Begleitband nicht nur in dieser Hinsicht viele Momente des Staunens, des Erinnerns und Wiederentdeckens, des Nachdenkens sowie großen Erkenntnisgewinn bieten wird.

Info

Zucker aus Rüben – Ein „Kraftstoff“ der Moderne: Informationen zur Ausstellung, mit Beiträgen von Anja Bel, Frank Kreißler, Jana Müller, Bernhard Post und Karin Weigt

REDAXO 5 rocks!